Deutscher Künstlerbund e.V.


Daniela Comani, #56, 2009
Fotografie aus der Serie Eine glückliche Ehe (seit 2003)
© Daniela Comani / VG Bild-Kunst, Bonn 2022

Parastou Forouhar, Im Amtsmannsaal
Fotografie aus der Serie Das Gras ist grün, der Himmel blau und sie ist schwarz …, 2017
© Parastou Forouhar

Raju GC, Shramik ka Katha, 2018-2022
Multimedia Installation, Chysal, Installationsansicht
© Raju GC

Ausstellungsansicht »decapitalize humanity«, Deutscher Künstlerbund, Foto © Deutscher Künstlerbund 2022 

                                                                                                                                                                                                                                                                                 
Niina Lethonen-Braun, »If we cry now,« she said, »it will be ignored,« 2017-2022, Wandinstallation, © Niina Lethonen-Braun; Daniela Comani, Fotografien aus der Serie Eine glückliche Ehe (seit 2003), © Daniela Comani / VG Bild-Kunst, Bonn 2022Judith Siegmund & André Piontek, Zu wenig zu viel?, 2010, © Judith Siegmund & André Piontek

08.04.2022 bis 03.06.2022
Ausstellung

decapitalize humanity
Daniela Comani | Parastou Forouhar | Raju GC | Aleksandra Kubiak | Niina Lehtonen Braun | Gerald Pirner | Ulrika Segerberg | Judith Siegmund & André Piontek | Sibylle Zeh

> Flyer (download PDF)


Eröffnung
Donnerstag, 07. April 2022, 18 Uhr

Begrüßung: María Linares, Vorstand Deutscher Künstlerbund

Einführung: Seraphina Lenz und Moira Zoitl, Vertreterinnen der Diversity AG des Deutschen Künstlerbundes
mit Live-Übertragung der Eröffnungsreden:
https://us06web.zoom.us/j/87864897351


Während des Gallery Weekends
Freitag, 29. April, 18 bis 21 Uhr
Samstag, 30. April, 12 bis 20 Uhr | Führung und Gespräch, 15 Uhr
Sonntag, 01. Mai, 12 bis 18 Uhr | Führung und Gespräch, 15 Uhr

Diskursprogramm
Dienstag, 26. April, 20 Uhr
Milchtee und Farbenlehre Online-Vortrag via Zoom von Katja Brinkmann, Künstlerin Berlin/Ulaanbaatar

Samstag, 14. Mai, 15 Uhr
»Salon DKB« decapitalize humanity zu Gast bei Jana Müller und Ulrika Segerberg mit Anna Okrasko


Reguläre Öffnungszeiten
dienstags bis freitags von 14 bis 18 Uhr und nach Vereinbarung

Besuch der Ausstellung
Der Besuch der Ausstellung und der Veranstaltungen ist nur mit FFP2 oder medizinischer Maske möglich.

 
Über die Ausstellung

»decapitalize humanity« präsentiert neun künstlerische Positionen, die das Wertesystem unserer Konsum- und Leistungsgesellschaft aus unterschiedlichen Perspektiven kritisch hinterfragen.

Die Corona Pandemie stellt alte Leistungskriterien und Wertschöpfungsketten infrage, wirtschaftliche Hochleistungsbranchen büßen Kapital und Relevanz ein. Die Weltgesellschaften werden in ihrer globalen Fragilität, die Menschen in ihren Abhängigkeiten sichtbar. Gerade jetzt wird die menschliche Leistung bei der Versorgungsarbeit offenbar und neu bewertet. Entsprechend dieser Thematik zeigt die Ausstellung »decapitalize humanity« internationale, zeitgenössische Haltungen, die mit poetischer und radikaler Bildsprache Fragen zu Mechanismen der politischen Ungleichheit aufgreifen.

Die präsentierten Kunstwerke setzen sich mit vorhandenen, tradierten Strukturen, sozialen Missständen und Handlungsweisen auseinander, die eine Klammer zwischen dem Privaten und dem Politischen bilden. Trotz der Unterschiede in der jeweiligen künstlerischen Ausdrucksweise und den Medien, die sich über die Bandbreite von Fotografie, Video, keramisch-malerischer Skulptur bis hin zur immersiven Rauminstallation erstrecken, verbindet alle Arbeiten die Beschäftigung mit der Menschlichkeit als gesellschaftlichem Wert.

Der Ausstellungstitel basiert auf einer Wortschöpfung analog zum verbreiteten Begriff »decolonize«, der für die Aufforderung steht, koloniale und postkoloniale Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse zu reflektieren und zu verändern. Der im Ausstellungstitel eingeschriebene Appell evoziert die Idee, Menschen nicht weiter als Kapital im Sinne von Produktivität und Leistung zu verstehen. Im Mittelpunkt der gezeigten Werke wird immer auch die Frage nach einer Ethik der gegenseitigen Fürsorge als Teil unserer Gegenwartskultur zur Diskussion gestellt.

Die Ausstellung wird kuratiert von der Diversity AG des Deutschen Künstlerbundes: Nezaket Ekici | Seraphina Lenz | María Linares | Christina Paetsch | Simone Rueß | Christine Schulz | Hildegard Skowasch | Anita Stöhr Weber | Moira Zoitl | Christina Zück

Daniela Comani (IT) arbeitet seit 2003 an ihrem fotografischen Projekt Eine glückliche Ehe. Darin untersucht sie die Repräsentation von heterosexuellen Geschlechterpositionen und ihren Stereotypen. In ihrer mehrteiligen Fotoserie ist Comani ihr eigenes Modell und schlüpft in die Rolle des »glücklichen Ehepaares«. Die profanen Alltagssituationen zeigen sie gleichzeitig als Mann und als Frau in einer entspannten Paarbeziehung. Minimale Abweichungen der Erscheinung und Handlungen und die gleichzeitige Ähnlichkeit der abgebildeten Personen hinterfragen unser Verständnis der sogenannten Normalität der aufgeklärten Ehe.

Parastou Forouhar (IR) beschäftigt sich in ihrer künstlerischen Auseinandersetzung auf radikale und poetische Weise mit der gesellschaftlichen Zuschreibung ihrer Kultur. Die in der Ausstellung vertretene Fotografie der Serie Das Gras ist grün, der Himmel blau und sie ist schwarz... zeigt eine nicht fassbare Körperlichkeit an einem realen Ort. Ein flüchtiges Wesen, das wie eine geistige Erscheinung wirkt, ist zu sehen, ein Wesen, das in einem ihm fremden, geschichtsträchtig wirkenden Ort einen Luftsprung zu machen scheint. Geschützt vor äußeren Blicken trägt die Erscheinung ihren eigenen Raum bei sich und bewegt sich zwischen Himmel und Erde. Das dabei entstandene Narrativ gibt lediglich Anspielungen preis, bleibt offen und irritiert.

Raju GC (NP) setzt sich mit dem Diskurs über Arbeitsmigration des globalisierten Arbeitsmarktes auseinander. Ausgangspunkt ist dabei sein Herkunftsland Nepal. In seiner performativen Multimedia-Installation Shramik ka Kaatha inszeniert er durch ausgewählte Hörcollagen und Textmaterialien die postmigrantischen Erfahrungen nepalesischer Rückkehrer*innen in ihre Heimat. Die Grundlage bilden narrative Interviews, die er an mehreren Orten geführt hat. Fragmente und Auszüge werden zusammen mit lokalen Soundscapes in Form von Audiomontagen zusammengestellt. Die Erzählungen der Migrant*innen werden umgeschrieben, vorgespielt, aufgeführt und nacherzählt, um die komplexen Thematiken wie Dislokation und Entwurzelung, Fremdsein und Zugehörigkeit sowie Wohnsegregation und Arbeitsmarktsegmentierung anschaulich zu machen.

Aleksandra Kubiak (PL) arbeitet in ihren künstlerischen Projekten mit Personen zusammen, die aufgrund ihres Gesundheitszustands und ihres materiellen Status gesellschaftlich ausgeschlossen sind. In ihrem Film Baraca thematisiert sie den anhaltenden Konflikt zwischen der ethnischen Minderheit der Roma und Einwohner*innen in Wrocław. Der Film porträtiert 2012 ein Roma-Dorf vor Ort und dokumentiert die künstlerische Aktion des Umzugs eines provisorischen Hauses auf das Gelände des ethnografischen Museums Wrocław. Auf diese Weise vermittelt die Künstlerin in enger Zusammenarbeit mit den Roma die über Generationen hinweg überlieferte Kultur des Baus sogenannter »Baracken«. Im Mittelpunkt des Happenings steht die Einladung zum temporären Dialog und zum Abbau von Vorurteilen.

Niina Lehtonen Braun (FI) setzt sich in ihrer Arbeit künstlerisch mit den Rollenkonflikten zwischen studierter Künstlerin, Mutter und Ehefrau auseinander. Dabei reflektiert sie sowohl ihre Zeit des Heranwachsens in Finnland als auch ihre jetzige Situation in Berlin. Sie bearbeitet gesellschaftliche Frauenbilder und thematisiert Probleme wie Alkoholismus und häusliche Gewalt. Im Herkunftsland der Künstlerin rangiert die Zahl der Frauen, die Gewalterfahrungen gemacht haben, auf Platz zwei in der Europäischen Union.

Gerald Pirner (DE) entwickelte die Technik der »Lightpaintings«, bei denen er in einem vollkommen abgedunkelten Raum mit einer Taschenlampe ein Modell oder sich selbst berührt, während zeitgleich eine Kamera auf Dauerbelichtung gestellt ist. Dabei war sein ursprünglicher Ausgangspunkt die Vorstellung von Ganzheit, die mehr und mehr von der Idee des Fragmentierten abgelöst wurde. Blindheit zeichnet sich in der Berührung durch Bruchstückhaftigkeit aus: der ganze Körper, das ganze Gesicht existiert für die Blinden nicht. Pirners Arbeiten zeigen, dass die Idee von Ganzheit auf einer Konstruktion beruht und verweisen auf subtile Weise auf das Thema des gesellschaftlichen Umgangs mit Beeinträchtigung.

Ulrika Segerberg (SE)

Die Festigkeit des Steins

hingeschleudert

bildet ein Fundament

 

Stück für Stück

tausche ich Festigkeit

gegen Licht

 

Berühre mich

as

the

lover

I am

 

Aus der Spalte

zwischen Nagel und Kuppe

drängt Feuchtigkeit heraus

Lecke die Fingerspitzen ab

 

Niobes Tränen

fließen aus dem Stein

 

fange sie in Schüsseln

 

Ihre Beharrlichkeit

macht den Stein

durchlässig

 

knete die raue Oberfläche

die Handflächen brennend

 

Dating my House

Judith Siegmund & André Piontek (DE) setzen sich in ihrer Arbeit mit Ausgrenzung durch Armut auseinander. Was bedeutet es hier und heute arm zu sein? Wer definiert sich selbst als arm und wer wird von wem als arm stigmatisiert? Siegmund & Piontek nähern sich dem Thema mit der Methode des Vergleichens an. In ihrem Film Zu wenig zu viel? überblenden sie historische Studien mit Interviews von Menschen aus Ostdeutschland, mit denen sie über Armut sprechen. Das Verschwinden des Zeitgefühls, Resignation und Lethargie bleiben als Befund übrig. Der Ausschluss findet nicht aus der Öffentlichkeit statt, sondern aus der Konsumgesellschaft, in der sich die Menschen über den optimalen Konsum im Privaten bestimmen.

Sibylle Zeh (DE) beschäftigt sich in ihrer Serie WOMEN IN ART HISTORY mit der Frage, wie und wann Künstlerinnen in das Gedächtnis der Kunstgeschichte eingehen. Ausgangspunkt sind Künstlerlexika und Ausstellungskataloge. Mit weißer Farbe werden alle Biografien von Künstlern übermalt, während die Biografien von Künstlerinnen lesbar bleiben. Die vielen weißen Blätter sind entlarvend. Sie repräsentieren die geringe Sichtbarkeit von Künstlerinnen in der Kunstgeschichtsschreibung ebenso wie die Ungleichheit bei der gesellschaftlichen Anerkennung.

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